Samstag, 19. März 2016

In meinem Schweigen stecken mehr Worte, als ich jemals sagen könnte.

Bitte, nimm' dir diese 10 Minuten Zeit und hör' zu:

"Ich weiss nicht mehr genau, wie es früher war. Schon als Kind war ich übergewichtig, damals hat mich das aber nicht wirklich gekümmert. Ich war beliebt in der Schule, hatte tolle Freundinnen und fühlte mich wohl. Ich war glücklich mit meinem Leben. Als Kind ist man so unbeschwert - wenn ich heute zurückdenke, kann ich das kaum glauben.
Irgendwann war dann die rosige Primarschulzeit vorbei. Ich war schon immer schlecht, wenn ich Entscheidungen treffen musste. Die Entscheidung, aufs Gymnasium zu gehen, kam deshalb eher von meinem Lehrer und meinen Eltern. Und ich stimmte zu.
Im Gymnasium war alles anders. Ich musste mir einen neuen Freundeskreis aufbauen. Und als introvertierte, pummlige Person ist das im pubertären Alter nicht so einfach. Das habe ich damals gemerkt. Die ersten zwei Jahre war es in Ordnung. Aber danach begann das Mobbing. Zum ersten Mal wurde mir klar, wie fies Kinder sein können. Wie ungerecht das Leben ist. Es war hart. Ich habe die Schule gehasst. Abends geweint. Aber nie etwas gesagt. Es war ja schliesslich meine Schuld, dass ich so fett war. Dann habe ich begonnen, abzunehmen. Ich weiss heute nicht mehr, wie ich es geschafft habe, aber ich hatte wohl die Disziplin und schaffte es, fast nicht zu essen. Meine Figur wurde schlanker. Ich war stolz auf mich. Und obwohl ich dadurch keine neuen Freunde gewann, fühlte ich mich gut. Ich hatte es geschafft. Erntete neidische Blicke, wenn ich durch den Flur lief.
Die letzten zwei Jahre waren ganz gut. Ich verstand mich plötzlich mit einigen aus meiner Klasse. Ich glaube, wir wurden alle reifer und einige begriffen wohl, dass das Mobbing unter der Gürtellinie war.

Gymnasium geschafft, Start in der Arbeitswelt. Ich fühlte mich so gut. War so frei. Dachte nie ans Essen. Reiste ins Ausland. Dachte nur daran, dass ich nicht zunehmen wollte. Es gab keine Waage. Die Hosen wurden mit der Zeit lockerer. Ich nahm es aber nicht bewusst war. War nur glücklich und genoss die neue Kultur und das fremde Land. Ich vermisse diese Zeit. Ich war so glücklich. So unendlich froh.

Wieder zurück kamen die ersten Kommentare "Hast du abgenommen?" "War das Essen schlecht dort?" Nach dem Gang auf die Waage wurde mir klar, dass ich etwa 8 kg leichter war, als vor dem Aufenthalt. Ich fühlte mich toll.
Dann begann das Studium. Mein Essverhalten wurde immer gestörter. Ich musste niemandem erklären, dass ich nichts zu Mittag ass. Meine Eltern dachten, ich esse in der Uni, meine Freunde sah ich am Mittag selten, da wir immer unterschiedliche Kurse hatten. Es war so einfach. Drei Jahre lang habe ich von Nichts oder einem Apfel gelebt. Ich war so stolz. Bin meine Kilometer abgelaufen, währenddessen andere Gegessen haben. Klar war mir bewusst, dass das krank ist. Aber ich war wohl schon zu fest in diesem Teufelskreis gefangen.
Jeden Morgen wog ich mich. Waren es 100g mehr, war der Tag gelaufen. 100g weniger - super.
Mein Sozialleben ging flöten. Abends war ich zu müde. Morgens stand ich um 5.00 Uhr auf, um zu joggen. Ständig hatte ich Ausreden, um nicht zu essen.

Zwei Jahre lang spielte ich dieses Spiel. Klar, es gab Zeiten, da musste ich essen, damit es nicht auffiel. Aber das waren Ausnahmen.

Schliesslich kam das letzte Jahr. Wieder ein Praktikum. Und das war der Zeitpunkt, wo alles kippte. Wo es bergab ging. Ich nicht mehr konnte.
Ich hatte zuvor schon diverse Praktika. Die waren streng, aber gut. Das eben angesprochene Praktikum war der Horror. Ich kann es nicht in Worte fassen. Ich konnte nächtelang nicht schlafen. Hatte Heulkrämpfe nach den Tagen. Bin einmal heulen auf der Toilette zusammengeklappt und konnte nicht mehr. Nein - nicht körperlich, sondern psychisch. Es hat mich kaputtgemacht. Ich weiss nicht, wie sich ein Burnout anfühlt, aber vermutlich war das eins.
Nach dem zweiten Tag wollte ich abbrechen. Hab' ich aber nicht. 5 Wochen lang. Irgendwie habe ich es geschafft. Im Nachhinein hasse ich mich dafür. Es fühlt sich an, als ob diese Zeit ein Teil von mir zerstört hat. Meine Lebensfreude genommen hat.
Plötzlich konnte ich nicht mehr fasten. Es ging nicht mehr. Ich stopfte mich jeden Abend voll mit allem, was ich finden konnte. Wie in Trance. Versuchte, meine Praktikumsdepression zu überdecken.
Ich hasste mich. Hasste alles. Konnte nicht mehr. Ich nahm zu. Nahm es gar nicht wahr. Wollte nur, dass es vorbeiging.

Ja, vorbei war es dann. Bestanden auch. Aber mit welchen Auswirkungen...Von diesem Zeitpunkt an, hörte mein Körper nicht mehr auf mich. Ich schaffte es nicht mehr, nicht zu essen. Mein Körper nahm sich alles. Ich wog immer mehr. Kaufte 3x neue Hosen. Nahm 20kg zu. In 9 Monaten. Es war der Horror. Egal was ich tat, nichts half. Ich fastete - nahm minim ab. Ich machte Sport wie eine Verrückte - nahm zu. Liess meine Schilddrüse, Eisenwerte und alles andere untersuchen. Nichts - kerngesund.

Irgendwann konnte ich nicht mehr. Die Zunahme war zu viel. Während diesen neun Monaten begann ich mich selbst zu verletzen. Schnitt mich in den Bauch, goss siedendes Wasser über meine Arme. Aber mir war selbst klar, dass das auch nichts an der Zunahme ändern konnte. Ich war so müde. Immer. Hatte keine Kraft mehr. Jetzt, 20 Monate später - ich wiege immer noch so viel - habe ich es wohl akzeptiert. Ich finde es nicht schön, aber versuche damit zu leben. Aber die Gedanken sind ständig in meinem Kopf. Aber ich sage nichts. Niemand weiss von dieser Geschichte. Zu sehr schäme ich mich dafür. Aber es gehört zu mir. Es gibt mir so viel Lebenserfahrung. Ich nehme gewisse Dinge viel lockerer. Weil mir mein Leben nichts Wert ist. Es ist mir egal, ob ich lebe oder tot bin. Man denkt sich nicht viel, wenn man mich sieht oder mit mir spricht. Und das ist gut so. Aber es tut auch gut, es aufzuschreiben. Irgendwie macht es mich besonders. Auch wenn es nicht schön ist. So habe ich wenigstens etwas, was niemand hat. Und schweige weiter."

Danke fürs Zuhören!